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Fakultät Raumplanung
Arbeitspakete

Kritikalitätsanalyse

Das Ziel dieses Arbeitspakets war es, die Kaskadeneffekte von COVID-19-bedingten Störungen auf die Lebensgrundlagen marginalisierter Gruppen zu bewerten, wobei ein besonderer Fokus auf der Rolle von Mobilitätsbeschränkungen und deren Auswirkungen auf kritische Infrastrukturen lag, um die Forschungsfrage zu beantworten:

Welche indirekten Auswirkungen haben Unterbrechungen von Infrastrukturen und Dienstleistungen infolge des COVID-19-Ausbruchs auf die Lebensgrundlagen marginalisierter Haushalte vor, während und nach der Pandemie?

Das Kaskadeneffekte-Modell diente als Grundlage für diese Analyse, da es verdeutlicht, wie Störungen in einem Sektor zu negativen Konsequenzen in miteinander vernetzten Systemen führen können. Durch die Nachverfolgung dieser Störungen wollten wir verstehen, wie Verwundbarkeiten verstärkt, Lebensgrundlagen beeinträchtigt und soziale Ungleichheiten verschärft wurden.

Unsere Forschung in Deutschland konzentrierte sich auf die Interdependenzen zwischen Mobilität und kritischen Infrastruktursektoren, insbesondere Gesundheit, Ernährung, Sozialarbeit, Bildung und Kinderbetreuung. Diese Sektoren wurden aufgrund ihres direkten Einflusses auf das tägliche Leben und ihrer Abhängigkeit von physischer Zugänglichkeit ausgewählt, wodurch sie sich von anderen kritischen Infrastrukturen wie Wasser- oder Stromversorgung unterscheiden. Da marginalisierte Gemeinschaften oft über weniger Ressourcen und alternative Optionen verfügen, waren Unterbrechungen in diesen Sektoren besonders nachteilig und vertieften bestehende Ungleichheiten weiter.

Methodik

Zur Bewertung der systemischen Verwundbarkeiten, die durch COVID-19-bedingte Mobilitätsbeschränkungen verursacht wurden, verfolgten wir einen qualitativen Forschungsansatz, der Literaturrecherche, Experteninterviews, die Entwicklung von Kaskadeneffekten sowie Validierungsworkshops kombinierte.

1. Literaturrecherche und Experteninterviews

Unsere Analyse begann mit einer umfassenden Literaturrecherche, um bestehende Forschungsarbeiten zu den Kaskadeneffekten kritischer Infrastrukturstörungen und deren unverhältnismäßigen Auswirkungen auf marginalisierte Gemeinschaften zu verstehen.

Zur Ergänzung dieser Erkenntnisse führten wir qualitative Experteninterviews mit Fachkräften aus Schlüsselsektoren durch, darunter:

  • Betreiber des öffentlichen Nahverkehrs, um das Ausmaß der Mobilitätsstörungen und deren Auswirkungen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen zu bewerten
  • Gesundheitsbehörden, um die ungleiche Auswirkung der Pandemie auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu verstehen
  • Sozialarbeiter:innen aus verschiedenen Bereichen, um Einblicke in die Herausforderungen marginalisierter Gemeinschaften wie obdachlose Menschen, Menschen mit Behinderungen, einkommensschwache Gruppen, Migrant:innen und ältere Menschen zu gewinnen

Diese Interviews lieferten unmittelbare Perspektiven zu den Folgen der pandemiebedingten Einschränkungen, insbesondere für Personen, die auf öffentliche Dienstleistungen angewiesen sind.

2. Entwicklung des Kaskadeneffekte-Rahmenwerks

Aufbauend auf den Erkenntnissen der Literaturrecherche und Experteninterviews entwickelten wir ein Kaskadeneffekte-Rahmenwerk, um die komplexen Interdependenzen zwischen Mobilitätsstörungen und kritischen Infrastruktursektoren zu visualisieren und zu analysieren. Das Rahmenwerk identifiziert:

  • Die anfängliche Abhängigkeit jedes Sektors vom öffentlichen Nahverkehr, indem untersucht wird, wie Mobilitätsbeschränkungen die Funktionsfähigkeit der Infrastruktur direkt beeinträchtigten
  • Die Welleneffekte auf Mitarbeiter:innen und Nutzende, die verdeutlichen, wie unterbrochene Transportsysteme die Arbeitsfähigkeit und den Zugang zu wesentlichen Dienstleistungen behinderten
  • Interdependenzen zwischen den Sektoren, die zeigen, wie Störungen in einem Bereich (z.B. Schulschließungen) weitreichende Folgen in anderen Sektoren (z.B. Kinderbetreuung oder Ernährungssicherheit) auslösten

Dieses Modell wurde iterativ verfeinert, um sicherzustellen, dass es die vielschichtigen Verwundbarkeiten während der Pandemie präzise erfasste.

3. Validierungsprozess

Zur Validierung und Verfeinerung des Kaskadeneffekte-Rahmenwerks führten wir Expert:innenkonsultationen in der Ruhrregion (Deutschland) sowie Workshops in São Paulo (Brasilien) und Kapstadt (Südafrika) durch. Diese Sitzungen zielten darauf ab, sektorale Abhängigkeiten, räumliche Verwundbarkeitsschwerpunkte und die breiteren Kaskadeneffekte von Mobilitätsstörungen zu bewerten.

In São Paulo und Kapstadt fanden Präsenz-Workshops statt, bei denen Expert:innen gemeinsam sektorale Interdependenzen identifizierten und bewerteten, wie Mobilitätsstörungen den Zugang zu wesentlichen Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung, Lebensmittelversorgung und Bildung beeinträchtigten.

In Dortmund (Ruhrregion) wurde aufgrund von Terminproblemen und Zeitknappheit der Expert:innen ein digitaler Validierungsprozess durchgeführt. Über eine Miro-Plattform erhielten Expert:innen zwei Wochen Zeit, um die Kaskadeneffekte-Ketten zu prüfen, Kommentare abzugeben, Änderungen vorzuschlagen und fehlende Interdependenzen zu ergänzen. Ergänzend wurde eine Umfrage zur Erfassung potenzieller Lücken und Abhängigkeiten bereitgestellt.

Dieser flexible, asynchrone Ansatz ermöglichte eine breitere Teilnahme und wertvolle Beiträge trotz organisatorischer Herausforderungen. Die Erkenntnisse aus Dortmund wurden mit den Ergebnissen der Präsenz-Workshops in São Paulo und Kapstadt kombiniert, was zu einer umfassenden Validierung des Kaskadeneffekte-Modells führte.

Zusammenfassung der Ergebnisse

Kaskadeneffekte in kritischen Infrastruktursektoren

Die Studie zeigte, dass Störungen in kritischen Infrastruktursektoren während der COVID-19-Pandemie erhebliche Kaskadeneffekte verursachten, insbesondere für marginalisierte Gemeinschaften. Während alle Bevölkerungsgruppen Herausforderungen erlebten, litten Menschen mit weniger Ressourcen unverhältnismäßig stark unter den Einschränkungen. Wichtige Ergebnisse umfassen:

  • Gesundheitsversorgung: Eingeschränkter Zugang zu medizinischen Einrichtungen führte zu verzögerten Behandlungen und verschlechterten Gesundheitszuständen bei marginalisierten Gruppen.
  • Ernährung: Unterbrechungen der Lieferketten und Schließungen von Verteilungszentren verschärften die Unterernährung und vertieften die Ernährungsunsicherheit.
  • Sozialarbeit: Der Ausfall sozialer Einrichtungen führte zu wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten.
  • Bildung: Schulschließungen und Herausforderungen beim Fernunterricht verschärften Bildungsungleichheiten, insbesondere für Kinder aus Migrantenfamilien.
  • Kinderbetreuung: Die Schließung von Betreuungseinrichtungen belastete Alleinerziehende und einkommensschwache Familien zusätzlich, was sich negativ auf Beschäftigung und finanzielle Stabilität auswirkte.

Auswirkungen auf Arbeitskräfte der kritischen Infrastruktur

Neben den Auswirkungen auf die Nutzenden untersuchte die Studie auch die Konsequenzen für Beschäftigte in kritischen Infrastruktursektoren:

  • Höhere Pendelkosten und längere Fahrzeiten
  • Zwang zur Nutzung teurerer Transportalternativen
  • Verstärkte Arbeitsbelastung und psychische Belastung aufgrund von Personalmangel

Fallstudie: Ruhrgebiet

Zwei zentrale Ergebnisse stachen in der Ruhrregion hervor:

  1. Bildung und Sozialarbeit: Sprachbarrieren erschwerten den Fernunterricht, während der Wegfall sozialer Einrichtungen die psychische Belastung und Armut verstärkte.
  2. Mobilität und Selbstbeschränkung: Auch nach der Aufhebung der Lockdowns mieden viele Menschen aus Angst vor Ansteckung den öffentlichen Nahverkehr, was ihren Zugang zu wichtigen Dienstleistungen weiter einschränkte.

Fazit

Die Ergebnisse verdeutlichen, wie Mobilitätsbeschränkungen während der Pandemie Kaskadeneffekte über mehrere Sektoren hinweg auslösten und bestehende strukturelle Ungleichheiten verstärkten. Die gewonnenen Erkenntnisse bieten eine Grundlage für weitere Forschung und politische Empfehlungen, um widerstandsfähigere und inklusivere Infrastruktursysteme zu schaffen.

Diagramm Kritikalitätsanalyse © icolma
Diagramm Kritikalitätsanalyse